„50% der Krise ist Psychologie.“ So halten wir unser ängstliches Gehirn besser in Schach!

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Angst erzeugt Horrorfilme im Kopfkino. So stoppst du den Streifen!
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Ängste, unruhiger Schlaf, Existenzsorgen... Unsere Gehirne rattern gerade im Turbogang. Dr. Bernd Ahrens, ärztlicher Psychotherapeut, Psychiater, Neurowissenschaftler und Privatdozent, erläutert, warum wir Menschen Angst zum Überleben dringend brauchen! Doch er verrät auch eine Technik, mit der wir unser Hirnrasen in der Krise erfolgreich in den Griff bekommen.

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Herr Dr. Ahrens, in Zeiten von Corona tanzen die Gedanken Cha-Cha-Cha. Angst ist unser aller täglicher Begleiter geworden. Warum fällt es uns derzeit so schwer, vernünftig und besonnen zu sein?

Das Wichtigste zuerst: Angst zu haben ist menschlich, normal und gesund! In unserer Menschheitsgeschichte haben uns Ängste seit jeher das Überleben gesichert. Denn wer früher in den Wald gegangen ist und keine Angst hatte, wurde gefressen. Isso. Wichtig ist nur, dass Angst nicht übermächtig wird und damit unser Denken und Leben beherrscht. Um unsere Angst in Krisenzeiten wie jetzt regulieren zu können, ist es wichtig zu verstehen, was im Körper überhaupt passiert, wenn wir Angst haben. Denn nur dann können wir unsere Angst fern von aller Scham annehmen. Dies ist zwingend notwendig, weil nur dieser Prozess den Weg für angstfreies, lösungsorientiertes Denken frei macht.

Angst ist da. Aber wir können mit ihr arbeiten!

In sich selbst zu investieren, zahlt sich immer aus!

Was genau bedeutet das? Wie ist unser „Oberstübchen“ denn aufgebaut?

Kurz gesagt: Wo im Gehirn die Angst wohnt, wohnt nicht die Vernunft und umgekehrt. Unsere Angst entsteht in einem sehr, sehr alten Teil des menschlichen Gehirns, im sogenannten subkortikalen Bereich. Dort herrscht eine ganz eigene Dynamik. In einem deutlich jüngeren Gehirnareal, dem Neokortex, wohnt dagegen die Vernunft. Dieser Hirnbereich hat sich in der Evolutionsgeschichte erst später ausgebildet. Obwohl beide Untermieter des Oberstübchens sind, sprechen sie eine völlig andere Sprache. Das heißt, sie sind nicht in der Lage, miteinander zu kommunizieren! Dies ist enorm wichtig zu wissen und übrigens auch der Grund, warum sich noch niemals jemand beruhigt hat, wenn ihm ein anderer sagt: „Reg dich doch mal ab!“ Vereinfacht bedeutet das für uns: Der ältere Untermieter hat die älteren Rechte – und das ist eben die Angst. Wird diese Angst durch Umstände, wie wir sie z.B. derzeit haben, befeuert, hat die Vernunft zunächst keine Chance.

 

Heißt das: Wir haben Angst. Wir sind Angst. Und wir sind dieser Übermacht hilflos ausgeliefert?

Ja und nein. Es klingt zunächst skurril, aber es ist wahr: Erst wenn wir eine radikale Akzeptanz dafür entwickeln, dass es völlig normal ist, Angst zu haben, werden wir lösungsorientiert denken können. Dieser Prozess ist lernbar, indem man sich passende Modelle sucht. Das bedeutet: Bilde dich! Informiere dich! Vielen Menschen gelingt es beispielsweise, ihre Angst vor einem Gewitter – übrigens ebenfalls ein altes „Erbe“ – in den Griff zu bekommen, indem sie sich erklären können, wie Gewitter entstehen, wann Blitze überhaupt gefährlich sind, warum Donner laut grollt etc. Wenn wir solche Modelle kennen, können wir innerlich auf Distanz zu unserer Angst gehen. Und darum geht es: die Angst spüren und wahrnehmen, sie quasi zum Tee einladen und begrüßen, um sie dann wieder gehen zu lassen. Unsere riesige Chance ist die Tatsache, dass der Neokortex, also das Areal, in dem die Vernunft angesiedelt ist, der einzige Hirnbereich ist, der über sich selbst nachdenken kann. Das müssen wir nutzen. So können wir kognitive Distanz zur Angst aufbauen, indem wir beispielswiese sagen: „Ach, das ist ja spannend, Angst: Du bist es also, die mich z.B. hamstern lässt.“

Distanz zur Angst aufbauen

Ähnlich wie bei dem Spruch: „Glaube nicht alles, was du denkst“?

Ja. Über Distanz gelingt es, dass wir uns nicht mit unserer Angst identifizieren. Wir sehen sie kommen, nehmen sie wahr und danken ihr, dass sie für uns sorgen will. Wir reden MIT unserer Angst, nicht mit anderen ÜBER sie. Aber wir haben gleichzeitig so viel Distanz, dass wir ihr sagen können: „Danke, Angst, aber ich krieg das auch so hin“. Bleiben wir beim Stichwort Hamsterkäufe. Wenn wir verstehen, dass auch die Tendenz des Menschen, seine Familie und Gruppe schützen zu wollen, in unserer Natur angelegt ist, können wir gedanklich Abstand vom sogenannten Herdendenken nehmen. Wer also vor dem Regal mit Klopapier wild zugreifen will, merkt jetzt, dass er oder sie zunächst einmal naturgemäß handeln würde. Das ist aber nicht sozial kompatibel und völlig übertrieben. Wenn wir also anerkennen, dass es eine alte Kraft in uns ist, die gerade das Ruder übernehmen will, ist schon viel erreicht. Denn dann sind wir diesem Mechanismus nicht ausgeliefert, können klarer denken und sagen: „1 mal Klopapier reicht.“

 

Es gibt ja durchaus viele Menschen, die derzeit gelassener scheinen als andere. Haben diese Menschen also die besseren Modelle?

Das kommt darauf an. Es gibt durchaus Menschen, die unter Einwirkung von Angst derzeit in Zwangsrituale verfallen. Sie wischen Staub oder wiederholen sonstige Verhaltensweisen im Autopiloten. Es ist aber tatsächlich so, dass für unsere psychische Hygiene selbst solch wenig sinnvoll erscheinenden Handlungen vorteilhafter sind als völlige Starre, die oft im Angstmodus entsteht. Denn grundsätzlich geben Rituale Struktur und Halt. Sie helfen dabei, Ängste in den Griff zu bekommen. Natürlich liegt die Herausforderung darin, diese Energie in strukturiertes, sinnstiftendes Handeln zu übertragen. Letztlich macht es ja erst zufrieden, wenn man etwas Sinnvolles erledigt oder geschafft hat. Zum Beispiel indem man für hilfebedürftige Menschen einkaufen geht. Von mir aus kann man gern auch Schnittlauch schneiden – und sei es mit der Friseurschere -, um damit gesund für die Familie zu kochen. Selbst das kann eine Kunst sein (lacht). Aber vor allem körperliche Bewegung und Motorik sind extrem wichtig. Raus gehen, Luft schnappen, Licht tanken. Aktiv sein. Und das am besten mit einem Plan und einer Regelmäßigkeit.

Raus aus der Starre – wir haben Macht!

Es ist also wichtig, ins „Tun“ zu kommen?

Absolut! Wer handelt, bändigt Angst. Und wer sich als aktiv handelnd wahrnimmt, verliert das Gefühl der Ohnmacht, also sprichwörtlich die Schwere, „ohne Macht“ zu sein. Dieser Punkt ist zentral dabei, um aus der Opferrolle rauszukommen! Dieses „Warum gerade ich? Warum das ausgerechnet jetzt?“ hilft jetzt nicht weiter. Im Gegenteil: Sich als Opfer zu fühlen und sich letztlich dafür zu schämen, dass man Ängste hat, macht Menschen traurig und depressiv. Kummer kann uns sprichwörtlich das Herz brechen, krank machen oder sogar töten. Wem es jedoch gelingt, das Ruder des eigenen Lebensschiffes wieder in die Hand zu kriegen, erlebt eine neue Freiheit. Neue Vitalität und Kreativität. Man kann die Zeit, die jetzt zur Verfügung steht, sinnvoll und lebendig nutzen. Lähmende Ohnmacht und Starre lösen sich auf. Alles, was es dafür braucht, sind Geduld, Akzeptanz und Wohlwollen sich selbst gegenüber. Jeder einzelne von uns muss diesen Punkt suchen und finden, der uns dieses Ruder wieder in den Griff bekommen lässt. Dafür ist Aktivität der Grundstein.

 

Sich trotz körperlicher Distanz anderen Menschen zu nähern und gut für sich und für einander zu sorgen – liegt nicht darin auch für uns alle die große Chance dieser Krise?

So ist es! Unsere Gesellschaft erlebt gerade etwas sehr Spannendes und Einzigartiges: Weder Wissenschaft noch Technik bieten uns derzeit Lösungen. Sie helfen uns im Kampf gegen das Virus nicht wirklich weiter. Das einzige Medikament, der einzige Schutz, die einzige Therapie, die wir momentan haben, sind Einsicht, Vernunft und Empathie. Das heißt: Wir selbst sind das einzige Mittel im Kampf gegen dieses Virus! Ist das nicht toll? Das ist doch eine ungeheure Macht, die wir haben. Denn wir können diese Krise entscheidend beeinflussen, indem wir lernen, uns selbst zu steuern und empathisch mit uns selbst und miteinander umzugehen. Wenn wir dieses riesige Geschenk begreifen, kommen wir zurück in die Kraft und können gemeinsam unfassbar viel bewegen. Ich halte es da gern mit dem griechischen Philosophen Epiktet (um 50-138 n. Chr.): „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.“ Also, machen wir was draus.

 

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Bernd Ahrens.

Sehr gern, liebe Simone Frieb.