Was nützen tolle Ziele, wenn das JETZT nicht stimmt?
„Wer Erfolg will, braucht dringend Ziele!“, lautete das unternehmerische Mut-Mantra noch vor kurzer Zeit. Nur wer mit unzähligen Plänen und Millionen von To-Dos am Start war, galt als ernstzunehmende Führungskraft. Friseurunternehmer Guido Paar macht in seiner Kolumne die gedankliche Rolle rückwärts und fragt (sich), ob und welche Bedeutung Ziele heute überhaupt noch haben.
Wenn ich über Ziele und ihre Bedeutung in der heutigen, sich stetig wandelnden Zeit nachdenke, fällt mir folgendes Sprichwort von Berthold Brecht ein:
Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ‘nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht. Berthold Brecht 1928
Hat Brecht Recht? Na ja, meine Großmutter würde antworten: „Nichts ist so schlecht, dass es nicht auch etwas Gutes hat.“ Aber jetzt höre ich auf mit tiefsinnigen Zitaten. Was also bringen uns weitreichende Ziele überhaupt – im Großen und im Kleinen? Schauen wir uns die aktuelle Zeit seit Beginn der Corona-Pandemie an. Wenn uns dieser Supergau etwas gelehrt hat, dann sicherlich die Erkenntnis, dass uns vollmundige Vorhaben und Ziele gerade überhaupt nicht weiterbringen. Vielmehr haben wir alle schmerzhaft erfahren, dass selbst der durchdachteste Plan durch ein unvorhergesehenes Ereignis wie eine Pandemie von jetzt auf gleich zunichte gemacht werden kann. Selbst überschaubare, klare Ziele im Salon können schnell obsolet werden, wenn etwa Mitarbeiter plötzlich kündigen oder krank werden. Kurz: Die Gegenwart ist instabil und nichts bleibt, wie es ist.
Was haben wir unter Kontrolle?
Ich habe für mich akzeptiert, dass sich viele Dinge und Veränderungen meinem Einfluss entziehen. Oft ist es doch so: Diese Woche ist es erschreckend leer im Salon. Es gibt viele freie Termine und die wenigen, die im Kalender stehen, werden auch noch abgesagt. Nächste Woche dann platzt der Salon aus allen Nähten und es fühlt sich an wie „früher“. Heißt: Nichts ist stabil im Moment! Vieles haben wir nicht unter Kontrolle. Daher mein Vorschlag, wie wäre es mit folgendem Blickwinkel: Wenn alles durcheinander scheint, sortiert es sich womöglich nur gerade neu. Wäre doch auch ein spannender Ansatz, oder?
Was ist wichtiger? Zukunft oder das Jetzt?
Die Management-Literatur hat uns zwar viele Jahre erklärt, wie wichtig Ziele und Strategien für den Erfolg sind. Unternehmen feiern sich und die Erreichung ihrer Zielsetzungen. Sie sind meist davon überzeugt, dass sie diese Erfolge ohne diese Vorsätze und ihre smarten Strategien nicht gehabt hätten. Keine Frage, Ziele bringen Handlungen in Gang. So sollten wir sie auch nutzen, mehr aber auch nicht! Denn Ziele bergen aus meiner Sicht auch Risiken. Sie lenken von der Gegenwart ab, weil sie dem Prinzip folgen: Das Glück liegt stets in der Zukunft, niemals im JETZT. Warum? Weil wir jetzt ja noch nicht am Ziel sind. Eine Botschaft der guten Absichten und Planungen lautet also: Die Gegenwart ist defizitär, unvollkommen. Und dieses Mangelempfinden macht Stimmung bei der Führung und im Team. Es macht sogar noch mehr Stimmung, wenn diese Ziele nicht erreicht werden oder gar unerreichbar sind. Aber mal ehrlich: Entsteht so eine konstruktive Stimmung mit positiver Energie, die uns motiviert und antreibt? Zumal wir doch in jüngster Vergangenheit mehr als gelernt haben, dass Ziele – wenn überhaupt – eher nur zufällig erreicht werden, egal ob in der Politik oder in der Wirtschaft. Vor nicht allzu langer Zeit hatten Unternehmen noch Fünfjahresziele, dann wurden daraus Zweijahresziele – inzwischen sind es Quartals- oder auch Monatsziele. Ganz ohne Ziele geht es dann eben doch nicht.
Jeder Salonbesuch ein Treffer
Was, wenn wir uns vorstellen, keine Ziele zu haben, aber die Klarheit, dass das Beste, was wir machen können ist, genau JETZT in diesem Moment, unser Bestes zu geben? Menschlich, spielerisch und fachlich, weil wir wissen, dass es unser Job ist.
Managementberater und Autor Reinhard Sprenger argumentiert in seinem Buch „Das anständige Unternehmen“, dass der Zweck eines Unternehmens darin besteht, seinen Kunden einen Nutzen zu bringen. Ich teile diese Meinung! Daher bin ich davon überzeugt, dass wir uns vor allem auf unsere Kund*innen konzentrieren und ihnen bei jedem Besuch das beste Salonerlebnis bieten sollten, das sie sich vorstellen können. Schließich entscheiden unsere Kunden und Kundinnen darüber, ob und wie es mit uns morgen weitergeht. Unsere Gäste emotional und fachlich zu begeistern gelingt nicht mit starren Zielen, sondern mit der Absicht, in jedem einzelnen Moment das Beste zu geben. Wenn wir immer unser Bestes geben, werden wir auch in Zukunft erfolgreich sein. Die Zukunft ist eine Kette von vielen JETZTs. Und unsere Gegenwart bekommt endlich wieder eine Chance, wieder gut, statt immer nur defizitär zu sein.
Was ist genau jetzt dran?
Wenn wir stets das Beste geben, erkennen wir auch im JETZT die Chancen, die wir haben, uns zu entwickeln. In meinem Salon hat dieser Weg dazu geführt, dass ich selbst wieder verstärkt aus- und weiterbilde; und zwar jede Woche. Beratungen trainieren wir spielerisch mit der Kamera. Der Wunsch, das Beste abzuliefern, wächst im Team. Keiner will mehr mittelmäßig sein, sonst würde er auch nicht zu uns passen. Wir haben klare Werte und konzentrieren uns auf unser Markenbild, unsere Haltung. Wir wollen unsere Kunden inspirierend, freundschaftlich, fokussiert und anspruchsvoll bedienen. In der Kommunikation, bei der handwerklichen Arbeit und im Service bilden wir uns nicht auf Ziele hin weiter. Wir bilden uns weiter, um stets im JETZT das beste Friseurerlebnis bieten zu können.
Jeden Tag aufs Neue
Das Hypen von Leidenschaften, Zielen und anderen Illusionen ist mir schlicht zu viel geworden. Lass mal mehr das JETZT richtig gut sein – voller Freude und spielerisch. Gut zu sein in unserem heutigen Spiel, zuverlässig in jedem JETZT, das erzeugt Dynamik und Kreativität. Viel mehr als ferne Ziele – aus meiner Sicht.
Euer Guido
Hallo lieber Guido,
Deine Meinung zum Jetzt hat mir sehr gut gefallen.
LG Marga