Ausbildungsverkürzung? Hat bei uns keine Chance!
Passen echte Handwerkskunst und Turboausbildung zusammen? Der Wunsch nach verkürzter Lehrzeit ist in vielen Betrieben ein großes Thema. Sogar Ausbildungs-Quickies à la „In 16 Wochen zum Profihaarkünstler*in“ machen derzeit die Runde. Peter Gress, Friseurunternehmer, Strategieberater und FMFM Artist macht bei den 36 Monaten Friseurausbildung in seinem Salon keine Kompromisse. In seinem Plädoyer für die Langsamkeit des Reifens erklärt er, warum.
Ich kann mich noch sehr gut an meine Schulzeit erinnern, die 1973 endete. Kein Lehrer hat mir damals je erklärt, wie Lernen funktioniert. Das habe ich erst im Sommer 1974 durch Prof. Dr. Frederic Vester gelernt. Sein Buch und die TV-Sendung „Denken Lernen Vergessen“ war sozusagen meine Lern-Erweckung. Bis dahin hatte ich das Gefühl, ein vollkommener Lernversager zu sein. Dank Vester erfuhr ich, dass es aus biochemischen Gründen eine bestimmte Zeit mit einer gewissen Anzahl von ständigen Wiederholungen braucht, bis ein Lernstoff im Langzeitgedächtnis dauerhaft abrufbar wird – und dass dieser Prozess nicht grenzenlos beschleunigt werden kann. Was man heute aufgrund der modernen Hirnforschung weiß, hatte Vester damals bereits ohne bildgebende Verfahren sehr gut erforscht.
Wie funktioniert lernen?
Da es 1973, als ich meine Lehre begann, noch keine koordinierte Ausbildung mit dem Ziel gab, richtig gute Friseure hervorzubringen, geschah, was geschehen musste: Während des ersten Ausbildungsjahres verfestigte sich mein Lernversager-Eindruck weiter. Erst mit Pivot Point habe ich dann die berufliche Erweckung gefunden, weil durch den logischen Aufbau der Lernmittel vieles in meinem Kopf erst richtig zusammenfand. Aus eigener langjähriger Erfahrung weiß ich heute: Um eine Leistung in hoher Qualität aus dem eigenen Kopf über die Hände auf den Kopf eines anderen Menschen zu bringen, ist nicht nur das theoretische Wissen um physikalische Funktionen wichtig, sondern vor allem Training. Also braucht es mindestens dreierlei für einem guten Lernerfolg: Das Wissen darum, wie lernen biochemisch funktioniert, logisch aufgebaute Unterlagen und vor allem Zeit für die Übung!
Stärken, was Spaß macht
Deshalb können Azubis bei uns im Salon nicht verkürzen. Die 36 Monate Ausbildungszeit sind ein Schutzraum, in dem sich die jungen Menschen entwickeln können, ohne zu viel Druck von den Kunden zu bekommen. Ein Auszubildender hat seitens der Kunden immer noch Karenzzeit. Als Chef ist es für mich ganz wichtig, zu Beginn der Ausbildung die Anlagen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen genau zu studieren. Was macht ihnen Spaß? Wo entwickeln sie Eigeninitiative und Eigenverantwortung? Wenn ich stärke, was ihnen Spaß macht, dann kommt die unverzichtbare intrinsische, also innere Motivation zutage, die die Jungen vorantreibt, weil sie einen Erfolg sehen. Das machen wir unter anderem mit unserem Stärkentableau, das die Azubis selber ausfüllen. Und durch die Beobachtung der Ausbilder und des gesamten Teams. Wir bringen unsere Auszubildenden nach einem genau definierten Ablauf sehr früh an den Kunden. Für jede Dienstleistung, die sie am Kunden durchführen, wurden sie vorher intensiv geschult und nach unseren Normen geprüft. Wenn sie die Prüfung bestehen, dürfen sie an den Kunden arbeiten.
Motivation durch Erfahrung
Mit Erfolg für alle Beteiligten! Die Azubis bedienen bereits im ersten Ausbildungsjahr eigene Kunden beim Haarfarben-Service, machen ihre Massagen, föhnen und stylen. Diesen genau definierten Haarfarben-Service habe ich vor vielen Jahren eingeführt, um Färbekunden zwölf Mal pro Jahr in den Salon zu bekommen und den Auszubildenden die Möglichkeit zu geben, von Beginn an selber Kunden zu bedienen. Das funktioniert sehr gut, und viele Kunden buchen immer wieder dieselben Azubis. Das zu erkennen, ist der erste wichtige Schritt für die Auszubildenden im Lernprozess hin zur selbstständig arbeitenden Fachkraft mit eigenen Kunden.
Transparenz & Offenheit
Nun stellt sich möglicherweise die Frage, wie wir es dem heiß begehrten Nachwuchs beibringen, dass er bei uns keine verkürzte Lehrzeit erwarten kann. Die Antwort darauf ist recht einfach: Wir stellen nicht nur die Jugendlichen ein, sondern beziehen immer auch deren Eltern mit ein, egal wie alt die Azubis sind. Wir machen ihnen klar, welche Philosophie und welches Konzept hinter unserer Ausbildung steht. Ich verhehle auch nicht, dass wir die 36 Monate brauchen, um unsere Investitionen in die jungen Menschen zu refinanzieren. Und ich mache ihnen klar, dass wir sie in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernehmen, wenn die Leistung stimmt. Und ob die stimmt, bestimmt das Team. Ich mache ihnen während des Bewerbungsgesprächs sehr deutlich klar, dass es nicht darum geht, so schnell wie möglich viel Geld zu verdienen, sondern dass es zunächst elementar wichtig ist, in sich selber zu investieren, damit das mit dem Geld verdienen hinterher auch klappt. Es kann durchaus sein, dass weder die Jugendlichen, noch die Eltern damit einverstanden sind. In diesem Fall ist das Gespräch beendet. Bevor es aber überhaupt zu einem solchen Gespräch kommt, absolvieren die Bewerber ein einwöchiges Praktikum, das im besten Fall mit der Einladung zu diesem persönlichen Gespräch mit den Eltern und mit mir führt.
Raum für Reife
Mir gefällt in diesem Prozess die Analogie zum Slow-Cooking: auch Fleisch braucht Reifezeit, und es schmeckt viel besser, wenn es stundenlang im Ofen vor sich hin gart und nicht auf dem Grill verbrannt wird. Denn genau das passiert mit Menschen, deren Anlagen nicht langsam und beständig weiterentwickelt werden. Und wo kann das besser funktionieren, als in der Schutzzeit der Ausbildung? Als Unternehmer muss ich Wege überlegen, wie ich ein solches System finanzieren kann. Wir garantieren durch dieses System gleichbleibende hohe fachliche Qualität und sichern uns neben hohen Preisen einen stetigen Zufluss von hoch qualifizierten Nachwuchskräften. Viele unserer Azubis erkennen erst im Laufe der Ausbildung, welchen Weg sie einschlagen wollen. Haarschneider? Colorist? Make-up Artist? Styling und Hochstecken? Ich habe nicht den Anspruch, dass jeder Mitarbeiter alles können muss! Ich bin damit zufrieden, wenn sie in ihrem gewählten Fachgebiet die absolute Höchstleistung bringen. Niemand kann in allem gut sein. Jeder Mensch hat seine speziellen Anlagen und Stärken, und die auszubauen, dafür brauchen wir Zeit. Hier schließt sich der Kreis.
Qualität braucht Zeit
Die Diskussionen um Turbo-Ausbildungen müssen wir beenden. Das bringt uns als Branche keine Vorteile, eher das Gegenteil ist der Fall! Wir brauchen hervorragend ausgebildete jungen Menschen, mit denen wir die Herausforderungen der Zukunft annehmen können. Es gehört einfach mehr dazu, als Wissen und Pseudo-Können in jungen Menschen hinein zu prügeln und dann zu erwarten, dass wir damit unsere Nachwuchsprobleme lösen. Wir verstärkten sie höchstens. Ich versuche, meinen Auszubildenden einen Sinn in dem zu zeigen, was sie tun. Dafür brauche ich eine langsame Reifezeit und ganz bestimmt keine Ausbildungsverkürzung.
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