Corona-Ängste: „Egal, wo mein Stuhl zukünftig steht – die Liebe bleibt!“
Diese Zeit ist eine Achterbahn. Auf-ab-auf-ab im Wechsel mit auf-zu-auf-zu. Saloninhaber Andreas Sebastian Ehrle geht‘s wie uns allen: mal überwiegen Erschöpfung und Frust, mal Dankbarkeit und Optimismus. Seine berührende Geschichte über Ängste, Liebe und tiefe Sehnsüchte im Strudel von Corona.
„Ich sitze gerade in den paar erkämpften Minuten Mittagspause, die mir in der momentanen Situation bleiben, vor meinem Salon. Gemeinsam mit Dani, meiner Kollegin, hocken wir da und sprechen – wie könnte es auch anders sein – über das tägliche Thema Corona. Sie meint, dass es langsam gefühlt besser wäre, alles dichtzumachen. Auch uns. Und irgendwie hat sie damit recht. Zumindest was meine private Sichtweise angeht. Unser Job: arbeiten direkt am Menschen, viele wechselnde Kunden am Tag; das bedeutet die Gefahr von morgens bis abends direkt bei dir. Wenn ich aber aus meiner Sicht als Unternehmer denke, dann darf einfach nicht erneut geschlossen werden. Kein Kunde sollte fehlen. Wir können diesen leeren Stuhl nie mehr aufholen. Hatten wir ja alles schon. Es geht derzeit nur noch Tag für Tag um das Überleben, das Hoffen und Rechnen. Wo und wie es für uns endet, weiß keiner von uns.
Was verstehen wir noch?
Das fällt mir schwer, da ich immer ein Macher war. Ein Typ, der die Dinge selbst entscheidet. Nun entscheidet der Staat über uns. Auf-zu-auf-zu. Was kommt noch!? Es fällt schwer, sich morgens, wenn der Wecker klingelt, zu motivieren. Steh auf, los ab hinter den Stuhl. Und das Tag für Tag. Der geliebte Job ruft. Mit der Angst, dass alles morgen schon wieder anders ist. Leute, was soll das auch alles? Eine Impfung für uns Friseure wäre doch top – aber warum habe ich bis jetzt kein Anrecht darauf? Müssen wir das verstehen? Was verstehen wir im Moment überhaupt noch? Wahlkampf steht offenbar über dem möglichen Tod von Menschen. Impfstoff konnte bestellt werden, aber es wurde gewartet. Hilft dies unserer Gesundheit, hilft das den geschlossenen Unternehmen? Selbst wenn ein Wunder geschähe und ab heute plötzlich alles reibungslos klappen würde: für viel zu viele wäre es leider schon jetzt zu spät.
Ab Tag 1 gekämpft
Mein Salon wird nächsten Monat 20 Jahre. In diesen Jahren ist viel passiert. Viele kamen, viele gingen. Viele Höhen, viele Tiefen. Sieben meiner Bandscheiben blieben auf der Strecke. Ich stand mit Krücken hinterm Stuhl, vollgepumpt mit dem guten Zeug. Musste erstmal wieder laufen lernen – und noch so vieles mehr. Ich habe in diesen 20 Jahren nicht nur mir selbst und meinen Kunden gedient, sondern auch dem Staat. Und nun? Ich dachte, ich sei ein gutes Sprungpferd im Stall. Eins, das immer gutes Futter verdient hat, weil es ja auch Kohle reinbringt. Eins, das, wenn es krank ist, die rettende Spritze bekommt, um wieder fit zu werden und dem Boss-Staat noch ein paar Jahre Pokale und Siegesgeld einzubringen.
Trotz allem tiefe Dankbarkeit
Trotz dieser Nummer wurde mir aber auch klar: Wir müssen „Danke“ sagen, dass wir öffnen durften! Danke, dass wir damit gefühlt über vielen anderen Berufen stehen. So sehr, dass wir uns zum Teil sogar vor anderen dafür schämen. Danke an unsere Kunden dafür, dass ihr weiterhin kommt und Wochen auf eure Termine gewartet habt. Und das, obwohl ihr wie die letzten Lumpis aussaht. Danke, dass ihr eben nicht in einem Keller, einer Küche oder im Garten des Nachbarn saßt, der euch die Haare geschnitten hat. Danke, dass ihr euch nicht getraut habt, mich privat anzurufen und nach einem illegalen Haarschnitt gefragt habt, auch wenn ihr meine Nummer bestimmt schon gewählt hattet. Ich hätte an der Stelle leider nein gesagt. Danke für eure Treue und auch danke für die Geschenke, die Tränen der Freude und die Gefühle des Glücks, die eben auch mit eurer Angst, dass es uns vielleicht bald nicht mehr gibt, verbunden sind.
Es gibt Lichtblicke
Das alles hier ist groß, und das sollten wir Friseure sehen. Aber es ist auch nicht alles so schlecht, wie es uns vermittelt wird. Wir dürfen uns das Positive nicht nehmen lassen! Schließlich sind Friseure diejenigen, die schon immer die besten Partys feiern. Das war am Tag danach leider schon oft mein Problem. Es gibt im Moment zwar keine offenen Clubs, aber in meinem Laden habe ich meinen eigenen Club. Dort lass ich die Musik laufen, die ich mag; ich kann sein, wie ich will und gebe den Kunden das Gefühl von Heimat. In diesen Momenten fühle ich etwas wie Glück. Trotz der langen Schatten, die zurzeit ebenfalls mein Leben begleiten. Einer davon ist, dass ich leider im Moment abends meinen Schlaf nicht wirklich finde. Das kenne ich sonst so nicht und es ist schon komisch, da man mit Mitte 40 ja nach täglich gut zwölf Stunden Arbeit platt sein sollte. Zwei kleine Kinder habe ich auch noch. Ich schlafe ein, wache auf und merke, dass meine Psyche mich einfach fernsteuert. Diese verdammte Angst, dass es doch nicht gut geht, nicht gut wird. Diese Existenz, die verbunden ist mit meiner Familie. Manchmal schrecke ich sogar hoch und ringe nach Luft – oder träume ich in dem Moment nur, dass es so ist? In solchen Situationen denke ich so oft: „Wirf doch alles hin, mach auch mal einen auf arbeitslos und komm runter. Das wäre doch gut…“ Dann werde ich wach, neben mir liegt mein fast vierjähriger Sohn Davie und sagt: „Papa, gibst du mir was von deiner warmen Decke?“ Das ist der Punkt, an dem ich wieder zu mir komme und weiß, wofür ich gemacht bin: Ich bin Haarschneider, ich komme aus dem Friseursalon meiner Oma und ich gehöre in meinen Laden!
Wir sind mehr als unser Salon
Liebe Kollegen, jetzt einfach mal direkt und gerade heraus: Egal, in welche Richtung auch immer uns die Welle der „Corona Bitch“ treiben wird; selbst wenn unsere Branche die Situation eines dritten, vierten oder fünften Lockdowns zu großen Teilen nicht überleben sollte und wir unsere Jobs und Salons verlieren würden: Unsere Leidenschaft, die Passion und unser Können kann uns niemand nehmen! Der Ort, der Platz, an dem du Haare schneidest, ist nicht das, um was es geht! Der Mensch, der du bist, ist der, der hinter dem Stuhl steht! Ich habe über Jahre so viele TV-Shows gedreht, habe in Aufzügen, in Waschanlagen, in Achterbahnen, in Clubs, auf Bühnen und in Salons, stehend, sitzend, liegend oder auch im Fahren den Menschen die Haare geschnitten. Das hat mir gezeigt: alles geht. Und selbst, wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre mir heute klar, dass ich stehend leben will und dass ich nicht betteln werde. Wenn die eine Tür zuzugehen scheint, dann schnapp dir die nächste und tritt sie mit Vollgas ein!
Die Liebe bleibt
Meine zwei Hände sind meine Macht! Ich werde immer und immer wieder aufstehen und meine Liebe zu dem, was ich kann – nämlich Haare schneiden und dabei Menschen glücklich machen – nicht sterben lassen! Wir sind vielleicht für viele „nur“ Friseure, aber wir sind auch die, die den Menschen in dieser schweren Zeit helfen, die Dinge für den Moment bei uns im Stuhl vergessen zu lassen. Das kann uns nichts und niemand nehmen.“