„Friseur-Darwinismus oder „Wer hat eigentlich Schuld?!“
Friseurunternehmer Michael Bredtmann führt den Salon Bredtmann in Wuppertal bereits in der 4. Generation. Erfolgreich. Und er weiß: Seit der Gründung vor 140 Jahren hat das Friseurgeschäft so manchen Sturm überstanden. Michael über Selbstregulation in schwierigen Zeiten und die spannende Frage, warum Anpassung ein Erfolgsrezept ist - und weshalb die Schuldfrage niemals den Blick in die Zukunft erlaubt.
Michael, es sind wilde Zeiten für das Friseurhandwerk. Du sprichst sogar von einem gewissen „Friseur-Darwinismus“, der vorherrsche. Was meinst Du damit?
Um sich auf dieses Thema richtig einzulassen, finde ich es wichtig, die jetzige Situation richtig zu verstehen: Derzeit „kämpfen” wir mit einer allgemein schwierigen wirtschaftlichen und menschlichen Situation und einer anspruchsvollen Mitarbeiter-Problematik. Wobei der Ausdruck „kämpfen” an sich falsch ist. Vielmehr geht es um Anpassung und die Fähigkeit, auf die neuen Rahmenbedingungen zu reagieren. Das ist gemeint mit dem Überleben des Stärkeren. Es geht weniger um Stärke an sich, sondern darum, mit meiner ganz ursprünglichen Motivation („Shoshin“) mein Unternehmen zu führen.
Was ist an Selbstständigkeit 2024 anders als früher?
Selbstständigkeit in Deutschland definiere ich mittlerweile als Ehrenamt. Man muss sich mal ehrlich fragen: Wie hoch ist Dein „Entrepreneur Minimum Wage”? Dein Unternehmer-Mindestlohn? Meiner liegt, gemessen an meiner Arbeitszeit, gefühlt gerade bei ca. 3,50 € in der Stunde. Warum arbeite ich dann überhaupt noch? Ganz einfach: Es ist einfach ein genialer Beruf! Wir haben als Friseure einen der wenigen Empathie-Berufe, die es in der Welt überhaupt noch gibt. Und wir haben Zukunft. Was jedoch häufig passiert: Bin ich in meinem Unternehmer-Leben nicht erfolgreich, suche ich mir unbewusst immer zuerst den oder die Schuldigen für die Schwierigkeit, die mich gerade behindert. Und Gründe, um frustriert zu sein, gibt es viele: Fachkräftemangel, Corona, Steuerbelastung, Wirtschaftskrise, Krieg und Gewalt, Ampelregierung, hohe Krankheitsraten, Egoismus, mangelnde Belastbarkeit, hohe Ausbildungskosten, hohe Grundlöhne, Work-Life-Balance sind nur ein Teil davon.
Kein Tag vergeht, an dem ich nicht in irgendeiner Form mit Frust oder Enttäuschungen konfrontiert werde. Beispiele dafür gibt es genug; unnötig, sie einzeln aufzuführen. Dieser Frust verwandelt sich mit der Zeit in Aggression. Dann bin ich jedoch in einer Phase, in der es für mich nicht gerade ratsam ist, Gespräche mit Mitarbeitern zu führen. Denn in diesen Momenten ist es für mich sehr schwer „nett und konstruktiv” zu sein. Oder mit einer positiven Ausstrahlung ins Geschäft zu kommen. Meine unbewusst versteckte Aggression ist vergleichbar mit einem Elefanten im Porzellanladen. Besser wäre es eigentlich für mein Unternehmen, wenn ich dann lieber nicht in meinen Salon gehen würde. Denn ich habe keine positive Ausstrahlung, mein Tonfall ist gestresst und vorwurfsvoll. Manchmal sogar wütend. Und ich merke das nicht in diesen Momenten, sondern – wenn überhaupt – erst danach! Und dann ist da noch dieser Blick von mir! Wenn ich gerade mit einem frustrierten Gedanken in mein Geschäft komme, dann spüren das meine emphatischen Mitarbeiter viel eher als vor 30 Jahren. Ich habe meine Mitarbeiter darauf trainiert, sich zu trauen, mir dann ein Feedback zu geben.
Heißt: Du läufst manchmal auch aus dem Ruder? Aber wie gelingt es Dir letztlich, Dich in diesen Zeiten wieder selbst zu steuern?
Ja klar, wenn es schlimm wird, dann kommen depressive Verstimmungen. Ich habe für mich also Strategien entwickelt, diese Situationen zu erkennen, zu verwandeln, um wieder in meine „Best-Performance-Stimmung” zu kommen. Schaffe ich das nicht, dann geht es mir nicht gut. Ich bin verwirrt, bekomme Angst und suche nach Ersatz-Befriedigungen. Ein paar Beispiele sind Süchte, Shopping und Facebook. Erkennen kann ich das auch an dem Schmachten nach äußerer Anerkennung: Nach außen spielt man den perfekten Friseurunternehmer, in meinem Inneren sieht es dann ganz anders aus.
Meine Zündschnur ist dann sehr kurz, und ich warte nur darauf, dass sie jemand entzündet. Den Bredtmann-Hulk zu entfachen, hilft mir zwar in diesem Moment zum Druckabbau, jedoch hilft es nicht meinem Umfeld. Im Gegenteil! Dann ist es ganz wichtig, dass ich an mir etwas ändere. Nach Anerkennung zu suchen, ist auch eine meiner Ersatzbefriedigungen. Diese Anerkennung tut zwar gut, hilft aber nur kurze Zeit. Die dabei entstehende Abhängigkeit von außen kann sich nämlich auch wieder in Frust verwandeln. Anerkennung ist auch eine tolle Ersatzbefriedigung, sollte der unternehmerische Erfolg gerade ausbleiben. Hilft aber nicht wirklich! Dies erkenne ich auch manchmal an Menschen, die auf Facebook ständig mit Tipps und Lebensweisheiten kommen, und keiner liked es. Die Community reagiert nicht, aber wenigstens hat man dann das Gefühl, jemand hört einem zu. Grundsätzlich ist Anerkennung kein Ersatz für Liebe und Erfolg! Früher war ich sehr oft abhängig von Anerkennung. Das ist ein furchtbarer Teufelskreis! Aus dieser Schleife bewusst auszusteigen, brachte mir viel Ruhe und Klarheit ins Leben! Ich behaupte aber nicht, dass ich heute frei davon bin. Sonst würde ich zum Beispiel nicht solche Artikel hier schreiben.
Was hilft Dir beim inneren Sortieren, um persönlich und unternehmerisch wieder fokussieren zu können?
Ich habe für mich Strategien gefunden, um aus diesem Teufelskreis zu entfliehen und meinen Weg zu finden. Viel eigene Achtsamkeit hilft mir, mich dissoziiert zu beobachten, zu analysieren und mich zu fragen: Was belastet mich eigentlich wirklich gerade? Warum mache ich das eigentlich gerade? Und was will ich wirklich im Leben? Bringt mich das gerade wirklich weiter?
Manchmal fühle ich mich, als ob alles in meinem Umfeld rücksichtslos, ungerecht und egoistisch ist. Daraus entsteht dann oft Enttäuschung. Es gibt diesen Satz „Wer nichts erwartet, wird nicht enttäuscht“. Darum bemühe ich mich, nicht befriedigte Erwartungen richtig zu interpretieren. Denn oft habe ich mich nicht richtig ausgedrückt oder einfach zu viel erwartet. Es ist mein Job, Dinge nicht persönlich zu nehmen, die Auslöser zu verstehen und zu verzeihen.
Beispiel: Ich kann die Welt, Politik, Steuern und Wirtschaftskrise nicht direkt verändern. Dies ist unser eigener Darwinismus, in dem wir gerade leben. Die Buddhisten nennen das auch Samsara. Selbst-Achtsamkeit ist mein Weg, dies zu bearbeiten. Ich spare mir die Kraft, mich in sinnlose Diskussionen zu verstricken.
Und ich beobachte: Was triggert mich am stärksten? Was mich z. B. ausrasten lässt, ist Ungerechtigkeit. Aber was tun? Ungerechtigkeiten direkt zu konfrontieren oder klarzustellen, hilft da auch meist nicht direkt. Also beruhige ich mich erstmal und übe mich im Annehmen. Es ist, wie es ist. Dinge, die mir im Salon auffallen, spreche ich nicht – wie früher – direkt, sondern erst nach ein paar Tagen mit dem nötigen Abstand und mit Ruhe an!
Wie verändert sich dadurch die Mitarbeiterführung?
Ich habe das Wort „Schuld” in unserem Vokabular gestrichen! Schuld liegt in der Vergangenheit, und ich möchte mich auf die Zukunft konzentrieren! Schuld ist wie Yin und Verantwortung Yang! Gebe ich meinen Mitarbeitern Verantwortung und die Möglichkeit mitzugestalten und konstruktiv mit Fehlern umzugehen, dann haben wir eine kreative, zeitgemäße Arbeitsatmosphäre. Erst in einer flachen Führungs-Hierarchie entsteht eine sogenannte „Wir-Verantwortung”. Wird in einem Unternehmen über Schuld gesprochen, dann läuft da etwas falsch!
Wir „Alten” suchen oft die Schuld bei der Generation XYZ. Dabei hat meine Generation in den letzten 40 Jahren vieles vergeigt. Jetzt sucht die junge Generation die Schuld bei uns Älteren. Richtig! Obwohl ich zu unserer Verteidigung sagen möchte: Wir sind aber auch „Schuld” an dem Frieden und Wohlstand, den wir jetzt haben. Doch was hilft es irgendeinem von uns, in der Vergangenheit nach Schuld zu suchen? Wie schön wäre es doch, wenn wir stattdessen mal in Ruhe zuhören und erfahren würden, welche Wünsche, Ängste und Sorgen die Anderen haben? Es geht jetzt um die Zukunft! Und die beschäftigt mich sehr…
Worauf kommt es im Wesentlichen an, um voneinander zu lernen, statt sich gegenseitig Vorhaltungen zu machen?
In der heutigen Zeit ist der Umgangston eine wichtige Grundlage zur guten Kommunikation. Wichtig ist auch der anerkennende liebevolle Blick, wenn man in das Geschäft kommt. Denn heute haben meine Mitarbeiter eine viel größere Wahrnehmung, wie es mir persönlich gerade geht.
Hinzu kommt das Verstehen: Die jetzt Zwanzigjährigen haben mit ganz anderen Rahmenbedingungen zu kämpfen als wir früher. Als ich zwanzig war, hatten wir keine Angst vor Krieg, Waldsterben, und die deutsche Wirtschaft war vorbildlich für die ganze Welt. Heute leben wir in der Angst vor Krieg in Europa, Altersarmut, und die deutsche Wirtschaft steht vor großen Problemen! Daraus entsteht auch das „Ich lebe hier und jetzt”.
Wenn wir auf die jetzige junge Generation sehen, dann muss man auch verstehen, in was für einer anderen Zeit wir leben. Ein Freund sagte mir gestern: „Es ist immer lustig, wie wir Boomer uns darüber aufregen, dass die Jüngeren nicht mehr so viel arbeiten wollen. Dabei will meine Generation selbst doch ebenfalls weniger arbeiten. Unsere Gesellschaft ist menschlicher geworden. Und auch wir wollen nur noch 4 Tage arbeiten. Mir macht die jetzige Generation so richtig Spaß und Freude!”
Zentral ist für mich auch Achtsamkeit. Diese wird sehr oft unterschiedlich interpretiert. Ein Freund von mir hat mal gesagt: „Ja, auch ich finde Achtsamkeit sehr wichtig. Zum Beispiel, dass meine Mitarbeiter darauf achten, dass jeder Kunde einen Kaffee hat!” NEIN, das meine ich nicht! Achtsamkeit heißt, mich dissoziiert mit der momentanen bewussten Wahrnehmung meines eigenen „Michael-Ich‘s“ auf Mitarbeiter und mein privates Umfeld zu konzentrieren.
Und was machst Du, wenn Du zeitweise mal wirklich keine Energie oder Motivation mehr verspürst?
Ich löse das, indem ich den Spaß an meiner Selbstständigkeit wiederfinde. Ich versuche, die Euphorie meiner Anfangszeit wieder zu rekonstruieren und die damalige Euphorie wieder zu recyclen.
Das bedeutet in Praxis beispielsweise, trotz höherer Kosten nicht nur auszubilden, sondern tatsächlich die Leidenschaft für meinen Beruf zu wecken. Denn eines ist klar: In unserer Branche muss man mehr arbeiten, um erfolgreich zu sein. Dafür hat man aber auch mehr Spaß und Befriedigung. Ein Empathie-Beruf halt. Wenn es läuft… 😉
Aber auch Deine Kollegen inspirierst Du in Seminaren und als Speaker, oder?
Meine Verantwortung ist es, unsere Rahmenbedingungen an die schwierige Friseur- und Wirtschaft-Umwelt anzupassen, damit wir in der natürlichen Selektion unser Branchen-Umwelt bestehen können! Dazu gehören zum Beispiel auch höhere Preise.
Unser Berufsbild hat sich verändert und daraus entsteht gerade mein neuer Vortrag und Seminar, in dem ich ein Konzept namens „Shoshin” weitergebe. Was „Shoshin” bedeutet? Hier wird ein Begriff aus dem buddhistischen Taoismus beschrieben und bedeutet „Anfängermentalität”. Er bezieht sich auf den Geist des Anfängers oder die Haltung des Anfängers. Es betont die Wichtigkeit von Demut, Offenheit und einem lernbereiten Geist. Der Begriff wird oft verwendet, um zu betonen, dass auch erfahrene Praktizierende einen Geist bewahren sollten, der für neue Lektionen und Verbesserungen offen ist. Und dieser Gedanke ist für mich zentral. Weil meine Berufserfahrung, teilweise mit negativen Erlebnissen und Erfahrungen, mich auch in meiner Entwicklung behindern kann. Spannend finde ich eher folgende Erkenntnis: Dinge, die früher falsch waren, können sehr wohl heute funktionieren! Ich versuche, mich wieder in die positive Stimmung, wie damals bei meiner Unternehmer-Anfangsphase, zu versetzen.
Mein Vortrag „Shoshin” ist für mich deshalb die Antwort auf den derzeit vorherrschenden Friseur-Darwinismus. Und er umfasst 8 Kernthemen, die ich für die Zukunft für wichtig halte.
- Budgeting (Kostenrechnung)
- Pricing (Preisgestaltung)
- Controlling (Kontrolle von Einnahmen und Kosten, Marketingmaßnahmen)
- Team-Building (Mitarbeiterführung)
- Marketing/ Funneling (Marketing/ Werbung/ Internet)
- Enthusiasm (Begeisterungsfähigkeit und Chef-Motivation)
- Digitalisierung (Das Rückgrat meines Unternehmens)
- Handcraft (Handwerk/ Ausbildung) a. Verschiedene Techniken b. Online Training
Klar, schlussendlich haben wir zwar gerade richtig schwere Zeiten. Reagieren und agieren wir jedoch mit den richtigen Strategien, hat unser Handwerk auch wieder goldenen Boden! Bei den ganzen Problemen – oder besser gesagt, Situationen – gibt es auch viele positive Dinge, die wir oft gar nicht erkennen und zu schätzen wissen! Mein „Shoshin” Vortrag ist hoffentlich bald fertig, und wer möchte, kann sich bei mir in der Warteliste eintragen, um den Start nicht zu verpassen!
Bravo
Sehr toll Micha.
Du hast alles auf den punkt gebracht und sehr gut beschrieben 🤗bin da ganz bei dir ! meeega lg Vincenza