Leben mit MS: „Ich danke dem Universum jeden Tag, dass es mir so gut geht“

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Die Friseurmeisterin und Trainerin Ute Nieke hat sich nach vielen Jahren des Schweigens entschlossen, öffentlich über ihre MS-Erkrankung zu sprechen.
Markus Dömer
Die Friseurmeisterin und Trainerin Ute Nieke hat sich nach vielen Jahren des Schweigens entschlossen, öffentlich über ihre MS-Erkrankung zu sprechen.

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Ute Nieke ist Inhaberin eines erfolgreichen, mehrfach preisgekrönten Salons, Chefin eines großen Teams und gibt ihr Know-how als Trainerin an Berufskolleg*innen weiter. In der Branche kennt man sie als sehr engagierte und aktive Unternehmerin und als einen unglaublich energiegeladenen Menschen. Dass Ute Nieke seit zwölf Jahren mit der Diagnose einer unheilbaren, chronischen Erkrankung lebt, wusste bis dato kaum jemand. Doch nun hat sie sich entschlossen, ihre Multiple Sklerose öffentlich zu machen. Warum hat sie FMFM-Autorin Daniela Hamburger erzählt.

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Ute Nieke ist einer der wenigen Menschen, die es schon bei einem Telefongespräch innerhalb weniger Minuten schaffen, ihrem Gegenüber mit ihrer Zuversicht und Lebensfreude ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Der Wunsch, Menschen glücklich zu machen ist passenderweise auch eine von Utes Triebfedern für ihren Beruf. Gemeinsam mit ihrem zehnköpfigen Team füllt sie ihren Salon „Beauty Point Hairdesign“ in Bad Rothenfelde seit 28 Jahren mit Leben. Doch um die nötige Kraft für die Arbeit am Stuhl aufbringen zu können, muss Ute mit ihrer Energie gut haushalten. Denn die Friseurunternehmerin ist an Multipler Sklerose (MS) erkrankt und lebt seit 2013 mit dieser Diagnose.

Krankheit der 1.000 Gesichter

„Bei MS handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der der Körper vereinfacht gesagt ständig gegen Entzündungen ankämpft“, beschreibt Ute das Krankheitsbild. Wie sich die chronischen Entzündungen des zentralen Nervensystems äußern, ist bei jedem Menschen unterschiedlich, daher bezeichnet man Multiple Sklerose auch als die „Krankheit der 1.000 Gesichter“. Manche Patient*innen leiden an Sprach- oder Sehstörungen, andere an Lähmungserscheinungen, extremer Müdigkeit oder Spastiken. Dabei kann die Krankheit schubförmig, wobei sich die Symptome vollständig oder teilweise zurückbilden können, oder fortschreitend verlaufen. Doch längst nicht jede Erkrankung endet tödlich und nicht jede*r Betroffene sitzt irgendwann im Rollstuhl. „Ich habe das Glück, dass die Krankheit bei mir eher gemäßigt auftritt – in den ersten sechs Jahren nach der Diagnose habe ich nicht einmal etwas davon bemerkt, hatte keinerlei Ausfälle“, erzählt Ute.

Geschockt von der Diagnose sei sie nie gewesen, berichtet Ute. Zunächst sei man von einer Borreliose ausgegangen, später kam der Verdacht der Multiplen Sklerose dazu. „Als es schließlich feststand, dachte ich mir: Dann ist es eben so“, erinnert sich Ute. „Die Medikation begann schon gleich nach der Diagnose und ich lebe einfach mit der Krankheit.“ Multiple Sklerose ist nach heutigem Stand nicht vollständig heilbar, jedoch mittlerweile so gut zu behanden, dass der Krankheitsverlauf stark verlangsamt oder sogar gestoppt werden kann. Die durchschnittliche Lebenserwartung von MS-Patient*innen liegt nur wenige Jahre unter der von gesunden Menschen.

Für die Krankheit geschämt

Im Jahr 2019 allerdings haderte Ute Nieke sehr mit ihrer Erkrankung. „Damals konnte ich plötzlich nicht mehr so gut laufen“, erinnert sich die Unternehmerin. Ursache ist eine Läsion im Rückenmark, ein Entzündungsherd, der sich auf Ute Niekes linke Körperhälfte auswirkt und dazu führt, dass Ute leicht humpelt. „Ich dachte mir damals: Warum muss ich so eine Scheiße haben? Was ist, wenn das jemand mitbekommt? Ich hatte große Angst, dass die Kundschaft wegbleibt oder meine Mitarbeitenden kündigen“, so Ute. Die Unternehmerin entschließt sich, ihre Erkrankung für sich zu behalten, nur wenige Menschen einzuweihen. Selbst vor ihrem Partner schämte sich Ute damals. Ich fragte ihn: „Willst Du mich wirklich heiraten mit MS? Glücklicherweise wollte er,“ schmunzelt sie.

„Im Salon zwischen den Stühlen fiel das Humpeln erst gar nicht so auf“, sagt Ute. „Doch 2022 konnte ich erstmals nicht mehr laufen. Seitdem brauche ich zumindest für weitere Strecken eine Gehhilfe“, erinnert sich Ute. Aber auch zu diesem Zeitpunkt kommunizierte sie ihre Krankheit nicht. Auf ihre Krücken angesprochen, redete sie statt dessen von einem Sportunfall oder scherzhaft von einer „alten Kriegsverletzung“. „Die meisten Menschen glaubten mir die Sportverletzung und fragten nicht weiter nach – schließlich sieht man Multiple Sklerose niemandem am Gesicht an.“

MS voll und ganz akzeptiert

Drei Jahre später hat sich Utes Einstellung geändert: „Es war ein langer Prozess und viel Arbeit an mir selbst nötig, doch nun habe ich mich entschlossen, offen über meine MS zu sprechen. Der Grund ist, dass Multiple Sklerose mittlerweile zur Zivilisationskrankheit geworden ist – an jeder Ecke hört man von Neuerkrankungen.“ Die Krankheit ist tatsächlich nicht sehr selten, wie neueste Zahlen der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft belegen: Hierzulande gibt es mehr als 280.000 Erkrankte, jährlich kommen 15.000 neu diagnostizierte Fälle dazu. Die Zahl der Erkrankten steigt, die Ursache ist nicht abschließend geklärt. „Mein Antrieb ist, anderen Betroffenen Mut zu machen, das Thema aus der Tabu-Ecke zu holen und in der Gesellschaft zu mehr Aufklärung beizutragen,“ erklärt die 55-Jährige. „Ich bin heute so weit, dass ich sagen kann, dass ich die Krankheit voll und ganz akzeptiert habe. Ich bin nicht mehr die alte Ute, meine Hemmung, mich mit Gehhilfe zu zeigen, ist weg. Mich gibt es nur noch mit der Krankheit und ich stehe absolut dazu,“ sagt Ute heute.

Viele Therapien nötig

„Ich bin noch gut davongekommen, weiß, dass ich wahnsinnig viel Glück gehabt habe. Allerdings sind auch viele Therapien nötig, um die Krankheit ausbremsen und gut mir ihr leben zu können. Ich gehe zur Ergotherapie, lasse mir Infusionen verabreichen, treibe viel Sport, achte extrem auf meine Ernährung, habe mit dem Rauchen aufgehört, mache alles, was möglich ist“, berichtet Ute Nieke. „Gleichzeitig braucht mein Körper viel mehr Zeit, um sich vom Alltag zu erholen.“ Die stärkere Erholungsbedürftigkeit war für Ute der Grund, in den letzten vier Monaten 2024 alle Schulungstermine abzusagen, sich eine Auszeit zu nehmen – auch wenn sie zunächst unsicher war, ob ihre Auftraggeber Verständnis dafür haben würden. „Ein bisschen Angst ist schon mitgeschwungen – davor, dass ich danach vielleicht keine Aufträge mehr bekomme, nicht mehr willkommen bin.“ Zum Glück unbegründet. Im Gegenteil: „Meine Auftraggeber von Keune sind absolut verständnisvoll, schätzen meine Arbeit auch weiterhin und für 2025 bin ich schon wieder fest für den Bereich Consultation eingeplant.“

„Dauerwelle wickeln ist auch Ergotherapie“

In ihrem Salon steht Ute mittlerweile nicht mehr als höchstens vier bis fünf Stunden täglich am Stuhl: „Klar, ich werde durch die Erkrankung ausgebremst, aber das macht nichts“, sagt Ute gelassen. „Ich brauche viel Zeit für mich selbst und die nehme ich mir. Stress ist das Schlimmste, was MS-Patient*innen ihrem Körper antun können. Gleichzeitig muss ich immer aufpassen, dass die Krankheit nicht die Dominanz über mein Leben gewinnt und den ganzen Tag bestimmt“, betont Ute. „Daher merke ich auch, dass ich z. B. Treffen mit Freund*innen ebenso brauche wie die Arbeit im Salon – schließlich ist eine Dauerwelle wickeln eigentlich auch so was wie eine Ergotherapie,“ lacht Ute. „Damit der Salon trotz meiner Erkrankung gut weiterläuft, musste vieles allerdings ganz schön umgeswitcht werden“, so die Inhaberin. „Glücklicherweise habe ich einen sehr stabilen Stamm aus langjährigen Mitarbeiter*innen. Auch wenn sie eine Weile gebraucht haben, um die Abläufe zu optimieren, nun funktioniert es super“, strahlt sie.

Selbstheilungskräfte aktivieren

Mittlerweile ist Ute Nieke selbst zur MS-Expertin geworden, weiß alles über die Krankheit, kennt sämtliche Therapie- und Behandlungsansätze und neu zugelassenen Medikamente. „Ärztinnen und Ärzte können es einem nicht abnehmen, dass man für sich selbst herausfindet, was einem gut tut.“ Auf die Cortisontherapie, die konventionell gegen MS-Schübe eingesetzt wird, reagiert Ute mit Schüttelfrost und Fieber. „Deswegen stecke ich viel Energie in Recherche, probiere aus, was alternativ gut für mich ist. Zum Beispiel hilft mir der regelmäßige Besuch einer Kältetherapie (Alpha Cooling), ebenso wie Cannabis und Akupunktur. Seit ich mich so behandeln lasse, habe ich keine Schmerzen mehr im linken Arm. Leider sind das Leistungen, die keine Kasse übernimmt.“ Ute Nieke wird oft gefragt, woher sie die Kraft nimmt, immer so gut drauf zu sein. Ute: „Auch wenn sich das vielleicht irgendwie seltsam anhört: Die Kraft der Gedanken hat einen unglaublich großen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit. Ich beschäftige mich viel mit Meditation, höre Hörbücher, die meine Selbstheilungskräfte anregen und stelle fest, dass es bestens funktioniert.“

Wissen und Positivität weitergeben

Auch was ihre Erkrankung angeht, ist Ute durch und durch „Trainerin“: „Ich liebe es, mein Wissen und Können weiterzugeben – das hat mich immer angetrieben“, sagt Ute. „Als ich fünf Wochen stationär in Reha war, habe ich schon nach kurzer Zeit selbst MS-Sprechstunden übernommen“, lacht Ute. „Hier habe ich viel gelernt – vor allem, jeden Menschen mit seiner Geschichte und seinem Vorgehen anzunehmen. Diesen Antrieb möchte ich weitergeben. Mein Traum wäre, in Zukunft auch mit MS-Patient*innen zu arbeiten, sie zu unterstützen und zu coachen, ganz individuell“, sagt Ute. Was sie nicht möchte, sind Menschen, die sich gegenseitig runterziehen: „Ich war eine Weile in einer MS-Chatgruppe, das hat mir nicht gut getan. Nein, ich möchte Positivität weitergeben. Denn ich danke dem Universum jeden Morgen dafür, dass ich so gesund sein darf und genieße jeden einzelnen Tag.“ Eine Einstellung, die man der lebensfrohen Ute absolut abnimmt. Und die so ansteckend ist, dass sie damit nicht nur sich selbst ermutigt, sondern sicher für viele Menschen eine wertvolle Stütze sein wird.