Streiten? Ja. Auf das WIE kommt es an!
Booom! Oft wirkt Corona in Sachen Gesprächs- und Streitkultur wie ein Brandbeschleuniger. Allerseits liegen die Nerven blank. Längst nicht nur Friseure gehen sich auf Social Media-Kanälen regelmäßig verbal an die Gurgel. Selbst Familien- und Freundeskreise zerschießt es derzeit in Einzelteile, wenn unterschiedliche Ansichten zur hochexplosiven Mischung werden. Einer, der allen stürmischen Zeiten zum Trotz immer wieder Flagge in der Branche zeigt, ist Salonunternehmer Lars Nicolaisen. Mit FMFM spricht der Hamburger Friseur und Podcaster über neuralgische Nerv-Punkte, konträre Meinungen, gemeinsame Ziele und den Wert wahrer Freundschaften.
Das gesellschaftliche Gesprächsklima ist derzeit insgesamt besonders rau, auch in der Friseurbranche auf Social Media. Dennoch hisst du regelmäßig via Podcast oder auch in Friseurmeetings im Clubhouse die Flagge und beziehst Stellung zu unbequemen Themen dieser Zeit. Warum machst du das?
Ich denke, ich kann mich ganz gut selbst einschätzen. Ich halte mich ja bei vielen Themen raus, da ich sehr oft nur über wenig oder nur gefährliches Halbwissen verfüge. Aber bei Themen, bei denen ich mich gut informiert fühle und zu denen ich auch eine eigene Meinung entwickelt habe, beziehe ich gern Stellung. Besonders gilt dies seit vielen Jahren bei politischen Themen, da ich ein politisch interessierter Mensch bin. Gerade beim Corona-Thema erlebe ich derzeit eine Übermüdung bei vielen Menschen um mich herum. Einige Maßnahmen wirken sinnbefreit, wenig durchdacht und auch nicht zielführend. Nun bin ich nicht der Anwalt der Politiker und ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich auch nicht alles gut finde, was gerade in der deutschen Politik passiert, aber oftmals erlebe ich geäußerte Kritik als plump, populistisch und sehr oft höre oder lese ich auch sehr schnell heraus, dass da jemand nur gefährliches Halbwissen besitzt – und dennoch meint, seine Meinung und Kritik laut rausposaunen zu müssen. Da springen dann bei mir alle Alarmglocken an und ich versuche mit meinem Wissen dazu beizutragen, dass meine Gesprächspartner:in komplizierte politische Situationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten kann. Dieser Austausch hilft meistens, das Wissen der jeweils anderen Person zu erweitern und so zu einer fundierteren Meinung zu gelangen. Das finde ich wichtig. Ob man dann anschließend meine Meinung teilt oder zu einem anderen Ergebnis kommt, ist sekundär.
Wie gelingt es dir, in den aktuellen, kontroversen Diskussionen auch bei Meinungsverschiedenheiten konstruktiv und lösungsorientiert zu bleiben? Und wann platzt auch dir der Kragen?
Wenn ich meine Antwort zu der Frage noch einmal auf die Corona-Pandemie beziehen darf, dann ist es eigentlich ganz einfach, konstruktiv und lösungsorientiert zu bleiben. Das Gute ist ja, dass wir alle das gleiche Ziel haben! Wir wünschen uns alle, dass die Pandemie bald ausgestanden ist und wir unser „altes Leben“ in bestmöglicher Form zurückbekommen. Das Ziel ist also für uns alle gleich, aber die Wege dorthin sind verschieden. In Diskussionen beziehe ich Stellung und versuche so gut wie möglich zu erklären, warum ich für Lösung A oder B bin. Diskutiere ich nun mit jemandem, der völlig andere Lösungen vorschlägt, so kann ich mir das ja gut anhören, den Argumenten lauschen und dann für mich entscheiden, ob meine Lösung aus meiner Sicht weiterhin Sinn macht oder ob die neu gehörten Argumente sogar noch sinnvoller erscheinen. Diese Offenheit wünsche ich mir von allen Gesprächspartnern. Am Ende kann man dann sogar freundlich aus einer Diskussion gehen, auch ohne einen gemeinsamen Nenner gefunden zu haben. Mir platzt der Kragen nur bei Diskussionspartnern, die für sich in Anspruch nehmen, die einzige wahre Lösung zu kennen – und alle, die eine andere Meinung haben, so behandeln, als hätten sie keinen Durchblick. Diese Arroganz kann mich wütend machen. Erst recht bei Personen, denen ich unterstelle, dass sie sich nur oberflächlich mit der jeweiligen Thematik auseinandergesetzt haben.
Was ist dein persönliches und berufliches größtes Learning in der Corona-Krise?
Dass die Gesellschaft leider nicht so solidarisch ist, wie man es gern glauben möchte. Eine weitere Erkenntnis ist, dass Freunde und Freundschaften noch wichtiger sind, als ich es ohnehin bereits eingeschätzt hätte. Ich bin tatsächlich entsetzt, wie wenig Eigenverantwortung viele Menschen in meinem Umfeld vorleben. Zwar halten sich sehr, sehr viele Personen an Gesetze und Vorgaben. Aber solange es diese Gesetze nicht gibt, handelt man eben dementsprechend locker. Wenn Mallorca nicht explizit verboten ist, fliegt man da halt hin. Die Ausgangssperre in Hamburg wird überwiegend eingehalten und die Inzidenzzahlen gehen bei uns ja auch deutlich zurück. Dass man sich auch schon vor der Ausgangssperre bitte nicht mit Freunden in geschlossenen Räumen treffen sollte, ist doch längst bekannt. Doch anscheinend hat man sich dennoch abends zu oft und zu viel verabredet. Befremdlich. Befremdlich empfinde ich jetzt auch die aktuelle Impfdebatte. Da gibt es tatsächlich Menschen, die betrügen und versuchen, sich vorzudrängeln – um anschließend möglichst lautstark ihre eingeschränkten Freiheitsrechte zurückzufordern. Der Stärkere gewinnt. Das ist nicht solidarisch. Das ist nicht meine Welt. Das sind nicht meine Werte. Ich habe in dieser Pandemie viele Situationen erlebt, die mich diesbezüglich im Kern traurig gestimmt haben. Ich kann nicht behaupten, dass mich dieser vorgelebte Egoismus überrascht; schließlich kennen wir den auch von der Zeit vor Corona. Aber diese letzten zwölf Monate haben meinen Eindruck noch einmal verstärkt – auch wenn ich mir bewusst bin, dass die Mehrheit der Bevölkerung zum Glück nicht so tickt. Es sind aber definitiv zu viele! Was mich hingegen wirklich positiv und dankbar stimmt, sind meine Freunde. Ohne feste Freundschaften und die Hilfsbereitschaft mir nahestehender Menschen, Kolleginnen und Kollegen, hätte ich diese Zeit gar nicht überstanden. Menschen um sich zu wissen, die es im Herzen gut mit einem meinen und die einem Verständnis, Kraft und Zeit schenken, ist eine ganz wertvolle und wunderbare Erfahrung. Erst in Krisen zeigt sich, auf wen man sich wirklich verlassen kann – und wer es wert ist, dass man sich auch für sie oder ihn zu 100 Prozent einsetzt und die größtmögliche Wertschätzung und Hilfe entgegenbringt.
Ja, Vertrauen und Gemeinsamkeiten tragen durch schwere Zeiten. Gibt es etwas, was die doch sehr heterogene Friseurszene in dieser Pandemie einen könnte? Oder anders gefragt: Wie könnte aus deiner Sicht der kleinste gemeinsame Nenner der Friseure in Deutschland aussehen?
Der kleinste gemeinsame Nenner wäre „Fair Play“ – und allein den bekommen wir in unserer Branche nicht hin. Ich frage mich mittlerweile: Müssen wir als Berufsgruppe einen gemeinsamen Nenner haben? Nur weil in rund 80.000 Friseursalons Haare geschnitten werden? Haben wir wirklich so viele Gemeinsamkeiten? Die Vielfalt unserer Branche ist ein großes Glück und ein Geschenk. Aber diese Vielfalt führt dazu, dass ich zum Beispiel mit meinem Unternehmen viel mehr Gemeinsamkeiten mit sehr hochwertigen Gastronomen, Hoteliers oder Medizinern entdecke, als etwa mit den meisten Friseursalons um den Hamburger Hauptbahnhof herum. Die Frage nach der Struktur unserer Branche und wie eine gemeinsame Zukunft aussehen könnte, in der wir als Kollektiv deutlich attraktiver werden könnten, dieser Diskussion stelle ich mich gern. Wann ladet Ihr dazu ein?