„Wir brauchen gesetzlichen Mindestpreis für Friseurdienstleistungen!“
Tindaro Orifici steht seit Jahrzehnten als Avantgarde-Hairstylist auf den Bühnen dieser Welt. Zusammen mit seinem Team nahm er kürzlich zum zweiten Mal an der Alternative Hair Show in London teil. Sein Aufenthalt in England war der Auslöser, die deutsche Friseurbranche einem schonungslosen Vergleich auszusetzen – mit FMFM-Autorin Daniela Hamburger hat der OMC World und European Champion darüber gesprochen.
Tindaro, was kann sich die deutsche Friseurlandschaft von England – speziell von London – abschauen, wenn es um Zukunftsgestaltung geht?
London gilt weltweit als Hauptstadt der Friseur*innen. Ikonen wie Vidal Sasson, Tony Rizzo und Trevor Sorbie begründeten hier in den 70er und 80er Jahren die Basis unseres Berufs. Neben diesem streng strukturierten angelsächsischen Einfluss vereint London seit den Nullerjahren aber auch südeuropäische Einflüsse. Denn vor allem Friseur*innen aus Südeuropa kommen seit den 90ern verstärkt nach London, um hier Seminare zu besuchen. Den markenneutralen Akademien kommt dabei eine enorm große Rolle zu, denn sie sind es, die hier Aus- und Weiterbildung für Friseur*innen gestalten, nicht die Unternehmen! Im Straßenbild sieht man daher neben den geometrischen englischen Schnitten eben auch das Innovative, Spielerische der südländischen Friseurszene, was zu einem unglaublich kreativen Mix in der Haarmode führt: klassisch, modisch freakig – hier sind alle Strömungen unterwegs. Und die Haarschnitte sind exzellent.
„In Deutschland gibt es aktuell nicht mehr so viele gute Friseur*innen wie früher“
Und in Deutschland? Wie ist hier das Straßenbild?
Wenn man hierzulande z. B. in Frankfurt oder München mal einen guten Bob auf der Straße sieht, ist das schon was Besonderes. Progressiveres taucht im Damenbereich nicht auf; der Mainstream ist extrem klassisch. In Deutschland gibt es fast nur lange Haare, bei denen ab und zu die Spitzen gekürzt werden. In England dagegen ist kurzes Haar gang und gäbe, und auch im Langhaarbereich gibt es richtige Haarschnitte. Deutsche Friseur*innen hätten es daher schwer in England zu arbeiten, denn sie können die dafür benötigten Schnitte nicht. Im internationalen Vergleich muss man leider sagen, dass es in der Breite in Deutschland nicht mehr so viele gute Friseur*innen gibt wie früher.
Ein vernichtendes Urteil… Was denkst Du – woher kommt dieser Unterschied, den Du wahrnimmst?
Der entscheidende Unterschied liegt in den Akademien: In Deutschland gibt es kaum noch markenneutrale Akademien. Eine richtige Schnittausbildung auf dem nötigen hohen Niveau findet deswegen gar nicht mehr statt, denn es werden höchstens noch Tagesseminare besucht.
„Haarschnitte bringen der Industrie keinen Umsatz“
Okay, aber für diesen „Akademieschwund“ muss es ja einen Grund geben…
Dafür gibt es sogar mehrere Gründe: Erstens haben die Friseur*innen kein Geld mehr, um sich richtig zu schulen. Von dem niedrigen Lohn lässt sich kaum ein 1.000 €-Seminar an einer Akademie bezahlen.
Zweitens hat in Deutschland die Industrie den Weiterbildungssektor in der Hand – und das ist schlecht für die Qualität der Haarschnitte! Denn der Industrie geht es vorrangig darum, ihre Produkte, vor allem Farbe, zu verkaufen. Um hier einen guten Absatz erzielen zu können, werden lange Haare gebraucht. In Haarschnitte wird nicht investiert, denn diese bringen keinen Umsatz.
Und drittens gibt es einen enormen Mitarbeiterwandel. Viele Mitarbeitende sind derzeit mehr damit beschäftigt, die deutsche Sprache zu lernen, als sich auf Weiterbildung konzentrieren zu können.
Warum siehst Du es denn überhaupt als problematisch an, dass die Bedeutung des Haarschnitts abnimmt? Brauchen wir den überhaupt so sehr, wenn wir doch in der Haarfarbe einen guten Umsatzbringer haben?
Das ist verheerend, denn es führt dazu, dass Deutschland in puncto Haarmode immer mehr abgehängt wird. Hierzulande gibt es keine Kultur mehr, zum Friseur zu gehen. Wenn Friseur*innen den Haarschnitt nicht wirklich gut beherrschen, gibt es natürlich auch keinen Grund, höhere Preise dafür zu verlangen. In London kostet ein Haarschnitt umgerechnet schon mal 100 Euro. In Deutschland können die meisten Friseur*innen nicht annähernd so viel dafür nehmen.
„Friseursystem bricht zusammen“
Aber bei der Preisgestaltung sind Friseurunternehmer*innen doch frei, sie können doch höhere Preise nehmen…
Das ist gerade das Problem! Meiner Meinung nach muss der Gesetzgeber, bzw. die Handwerkskammer, ein Regelwerk aufsetzen, das einen Mindestpreis für Friseurdienstleistungen definiert. Es kann einfach nicht sein, dass Barbershops, die offiziell keine Haarschnitte machen dürfen, sich nicht daran halten und damit den Wettbewerb verzerren. Oder dass es immer noch dubiose Betriebe gibt, die 10-Euro-Schnitte anbieten. Das kann angesichts des Mindestlohns doch schon rein rechnerisch nicht gehen! Diese Salons müssten verboten werden, und gegen die Barbershops muss noch entschiedener vorgegangen werden.
Ich fordere, dass es einen gesetzlichen Mindestpreis gibt, der es ermöglicht, Friseur*innen einen gerechten Lohn auszuzahlen, vom dem sie – auch ohne finanzielle Hilfe eines Partners oder einer Partnerin – leben können. Denn dann bleibt auch Geld für Seminare übrig und die Qualität steigt wieder, sodass die Kundschaft dann auch bereit ist, höhere Preise zu zahlen.
Du würdest also den Gesetzgeber in die Pflicht nehmen?
Auch – es gibt viele Stellschrauben, an denen gedreht werden muss. Denn gleichzeitig müssen die Ausbildungsmaßnahmen bei Jugendlichen so verbessert werden, dass ein höherer Lohn auch gerechtfertigt für sie ist. Da sehe ich klar die Industrie in der Pflicht; da muss noch mehr getan werden. Die Industrie muss ihre Friseurszene unterstützen statt unterzutauchen. Wenn – wie hierzulande – die Firmen sich aus Messen zurückziehen, kein Sponsoring mehr für Wettbewerbe leisten, Veranstaltungen wie der ‚German Hairdressing Award‘ eingestellt werden – wie soll dann dieser Beruf attraktiv bleiben? Meiner Meinung nach fehlt es in Deutschland an allen Ecken und Enden. Ein ganzes Friseursystem bricht zusammen!
Mentoring und Kickstart für Ausbildung
Was braucht es denn Deiner Meinung nach in Deutschland, um die Entwicklung wieder in eine gute Richtung zu bringen?
Ganz klar Investitionen. Erstens von Betrieben in Mitarbeitende. Wie gesagt, die müssen nicht nur wieder Akademien besuchen dürfen, sondern sollten auch mental ausgebildet werden. Schon Azubis „einzuschwören“ auf unseren Beruf, darauf, worauf es wirklich ankommt, sie zu motivieren, das wäre unglaublich wichtig. Welche Etappen muss man nehmen, um erfolgreich zu sein? An wen kann ich mich wenden, wenn ich nicht weiterweiß? Im Prinzip eine Art Mentoringprogramm, verbunden mit einem wirklich motivierenden Event als Kickstart, so was wie Erfolgscoaches anwenden.
Zweitens muss, wie gesagt, die Industrie in die Fähigkeiten der Friseur*innen investieren. Die Firmen müssen neutrale Plattformen für Aus- und Weiterbildung bieten – ohne „Firmendenken“. Hört sich zunächst komisch an, ist aber absolut in deren Interesse. Denn ohne erfolgreiche Friseur*innen gibt es auch keinen Produktverkauf. Und ohne wirklich gute Arbeit gibt es keinen Farbumsatz im Salon. Denn bei mangelnder Qualität färbt die Endkundschaft zuhause selbst.
Und drittens von Seiten der Handwerkskammern. Der normale Ausbildungsgang entspricht nicht mehr den Anforderungen. Die duale Ausbildung ist gut, aber sie muss anders gesteuert werden.
Ich plädiere dafür, die Grundausbildung zu verkürzen und dann Zusatz-Mastergänge und Spezialisierungen je nach Vorliebe der Azubis anzubieten. Das dauert dann auch wieder drei Jahre, aber die sind sinnvoller genutzt.
Puh, klingt mehr als herausfordernd…
Die Situation ist schwierig, aber es ist noch nicht zu spät! Wir haben großes Potential in Deutschland, aber es muss eben auch genutzt werden. Und dafür ist nicht alleine die Industrie zuständig. Das geht auch gar nicht, denn z. B. L’Oréal-Programme würden nicht von Wellanern besucht und umgekehrt. Unabhängige Fachleute aus dem Handwerk müssen die Entwicklung in die Hand nehmen. Die Presse ist ebenso verantwortlich wie Institutionen, die die Leitlinien vorgeben. Der Zentralverband muss an dieser Stelle übernehmen: Er muss von der Industrie Gelder akquirieren und ein entsprechendes markenneutrales Aus- und Weiterbildungsprogramm aufbauen, das durch diesen Fonds finanziert wird. So könnten wir endlich wieder die Qualität erlangen, die wir dringend brauchen, damit das Herz unseres Berufs nicht ausblutet.
Lieber Tindaro, vielen Dank für Deine Einschätzung und das Interview.